Bei hohen beruflichen Anforderungen und Arbeitsstress greifen ArbeitnehmerInnen häufiger zu Substanzen. Die Motive dafür sind unterschiedlich. Neben individuellen Faktoren hat auch die Gestaltung des Arbeitsumfeldes wesentlichen Einfluss darauf.
Eine Studie mit 411 oberösterreichischen ArbeitnehmerInnen analysiert diese Mechanismen genauer, stellt Zusammenhänge mit Arbeitsbedingungen her und geht auf geschlechtsspezifische Unterschiede ein. Erstellt wurde sie von Joachim Gerich/Johannes Kepler Universität Linz und Roland Lehner/Institut Suchtprävention der pro mente OÖ.
Bei hohen Belastungen am Arbeitsplatz wird im Wesentlichen aus zwei Motiven konsumiert:
1. Eskapismus: Der Substanzkonsum dient als Bewältigungsstrategie, um Emotionen zu regulieren, sich abzulenken und den Belastungen zu entfliehen. Man kann auch von „eskapistischem Substanzkonsum“ sprechen.
2. Aktivierung und Präsentismus: Konsum von aktivierenden Substanzen, um arbeitsbezogene Ziele verfolgen zu können – auch dann, wenn eigene Belastungsgrenzen bereits erreicht sind. Zur Aktivierung werden Substanzen vor allem von jenen konsumiert, die auf hohe Anforderungen in der Arbeit mit Präsentismus reagieren.
Welchen Einfluss nehmen der Arbeitsplatz und das Organisationsklima auf den Substanzkonsum?
Neben individuellen Voraussetzungen der ArbeitnehmerInnen erhöhen spezifische strukturelle Merkmale des Arbeitsplatzes und der Arbeitsorganisation die Wahrscheinlichkeit von Substanzmissbrauchsstörungen.
„Wie oft haben Sie im vergangenen Jahr Arzneimittel, Alkohol oder ähnliche Substanzen konsumiert, um sich besser von der Arbeit zu erholen?“
„Wie oft haben Sie im letzten Jahr Arzneimittel oder andere Substanzen verwendet, um Ihre Arbeitsfähigkeit zu verbessern?“
Bei diesen Fragen zeigten sich folgende Einflussgrößen:
- Psychosoziales Sicherheitsklima In einem Psychosozialem Sicherheitsklima (Psychosocial Safety Climate, PSC) nehmen Vorgesetzte und Unternehmensleitung die psychosoziale Gesundheit der Belegschaft ernst und treffen Vorkehrungen, wenn diese gefährdet ist. MitarbeiterInnen, die ein psychosoziales Sicherheitsklima wahrnehmen, weisen bei der Befragung einen geringeren Substanzkonsum auf.
- Soziale Unterstützung Soziale Unterstützung am Arbeitsplatz wirkt wie ein Puffer gegen Belastungen. MitarbeiterInnen, die ein hohes Maß an sozialer Unterstützung angeben (Hilfe bei fachlichen Fragen und Problemen, Anerkennung der Arbeit, gemeinschaftliche Aktivitäten im Team…) zeigen geringeren Substanzkonsum.
- Wettbewerbs- und Präsentismusklima Ein hoher wahrgenommener Wettbewerbsdruck führt ebenso zu einem höheren Substanzkonsum, wie ein Klima des Präsentismus. Damit ist ein Organisationsklima gemeint, bei welchem lange Anwesenheiten im Betrieb erwartet werden und die Leistungsbeurteilung und Anerkennung der Beschäftigten vorwiegend auf Basis langer Arbeitszeiten erfolgt.
- Arbeitsanforderungen Hohe Arbeitsanforderungen begünstigen in direkter Weise eskapistischen Substanzkonsum. Jene, die auf hohe Arbeitsanforderungen mit zusätzlichen Anstrengungen und Verausgabung (z.B. Arbeiten trotz Krankheit) reagieren, nützen Substanzkonsum zudem auch zur Aktivierung.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede bei den beiden Arten von Substanzkonsum „Eskapismus“ und „Präsentismus“.
Bei Männern ist der eskapistische Substanzkonsum stärker ausgeprägt als bei Frauen.
Beide Geschlechter nützen aktivierenden Substanzkonsum für Präsentismus, Frauen jedoch stärker.
Der aktivierende arbeitsbedingte Substanzkonsum von Frauen wurde bisher in der Forschung, die auf Alkohol und Nikotin fokussiert, unterschätzt. Es kann davon ausgegangen werden, dass Frauen vor allem Medikamente und Psychopharmaka konsumieren, um sich für anstehende Aufgaben zu aktivieren.
Schlussfolgerungen für die Prävention
- Arbeitsplatzbezogene Prävention sollte nicht ausschließlich das individuelle Risikoverhalten oder die Resilienz von Beschäftigten in den Blick nehmen.
- Auch die Verringerung der Verfügbarkeit von Substanzen oder die soziale Kontrolle des Substanzkonsums am Arbeitsplatz greifen als alleinige Maßnahmen zu kurz.
- Wichtig sind für die betriebliche Suchtprävention zusätzliche Maßnahmen zu den strukturellen Risikofaktoren für Substanzkonsum: hohe Arbeitsanforderungen, Wettbewerbs- und Präsentismusklima, fehlende soziale Unterstützung und geringes psychosoziales Sicherheitsklima.
Quelle: Gerich, Joachim und Lehner, Roland: Escape or activate? Pathways of work stress on substance use. Journal: Work, vol. Pre-press, no. Pre-press, pp. 1-14, 2022
Text: Mag.a Rosmarie Kranewitter-Wagner, Institut Suchtprävention/pro mente OÖ
Foto: geralt auf pixabay.com