Zweifelsohne, der Begriff „Digitalisierung“ ist seit geraumer Zeit allgegenwärtig, ja fast inflationär. Jeder, der etwas auf sich hält, streut ihn ein. Trotzdem ist häufig nicht klar, was genau damit gemeint ist. Noch schwieriger ist es, ihn in Bezug zu „Gesundheit“ oder „Suchtprävention“ zu setzen. Die erste Euphorie scheint jedenfalls verflogen und die Auseinandersetzung mit den vielen Facetten von Digitalisierung wird differenzierter. Das Ars Electronica Festival 2019 titelte treffend „Out of the box – die Midlife Crisis der digitalen Revolution“. Sich dem Megatrend „Digitalisierung“ zu verweigern, ist unmöglich – egal in welcher Branche wir tätig sind, ob wir der „Generation Z“ angehören oder im vorigen Jahrhundert geboren wurden. Daher lohnt es sich, auch aus suchtpräventiver Sicht ein paar Spots auf dieses übergroße Thema zu werfen.
Definitionen von „Digitalisierung“
Die englische Sprache unterscheidet feiner als das deutsche Wort „Digitalisierung“ in drei Begriffe:
Digitization ist die Umwandlung von analoger Information in ein digitales Format. Beispiele sind E-books, Digitalfotografie, digitale Landkarten, Scans historischer Dokumente usw.
Digitalization ist die Ermöglichung, Verbesserung und Transformation dessen, was in Unternehmen und Organisationen passiert (Geschäftsmodelle, Prozesse, Kommunikation, Produktion…) durch digitale Technologien und digitale Daten. Sie setzt voraus, was unter 1. beschrieben wurde. Beispiele sind e-government, online Terminvereinbarungen, online shops…
Digital Transformation ist die sogenannte „4. Industrielle Revolution“, also eine grundlegende Transformation der Arbeitswelt und ihre Effekte auf alle gesellschaftlichen Bereiche.
Für die Suchtprävention sind alle drei Aspekte von Digitalisierung relevant:
Digitization – von analog zu digital
Auch Akteure/innen der Suchtprävention sind gefordert, ihre Botschaften über digitale Kanäle an ihre Dialoggruppen zu bringen, mit interaktiven digitalen tools Kontaktangebote zu setzen und social media Präsenz zu zeigen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Mit ready4life, dem digitalen Coachingprogramm für Lehrlinge, setzt das Institut Suchtprävention ein Angebot, das dieser Notwendigkeit Rechnung trägt.
Ein weiterer Anwendungsbereich, der bereits zu Punkt 2 „Digitalization“ überleitet, ist „Blended Counseling“, also der Mix aus klassischer Suchtberatung und digitaler Beratung. Klient/innen haben die Möglichkeit, von der Online-Beratung zu einem ambulanten Angebot zu wechseln und umgekehrt. Persönliche Beratungsgespräche werden mit onlinebasierten Tools angereichert.
Digitalization – die Transformation von Unternehmen und Organisationen
Die Digitalisierung von Arbeitsrealitäten hat Auswirkungen auf das Belastungsniveau von Arbeitnehmer/innen. Zunehmende Komplexität, Informationsflut, Beschleunigung von technologischen Veränderungen usw. lösen „digitalen Stress“ aus. In einer gleichnamigen Studie von Gimpel (2018) wurden die höchsten Ausprägungen von digitalem Stress überraschenderweise bei jungen Arbeitnehmer/innen (25-34 Jahre) und bei Beschäftigten in hoch komplexen Jobs sichtbar. Die „digital natives“ sind also trotz ihrer Nähe zu digitalen Medien nicht zwingend vor den daraus resultierenden Belastungen geschützt. Ausschlaggebend für das Level an digitalem Stress ist nicht unbedingt der Digitalisierungsgrad des Arbeitsplatzes, sondern vielmehr das Ungleichgewicht zwischen mangelnden Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Technologien und den Anforderungen, die diese an Arbeitnehmer/innen stellen. Die Folgeerscheinungen reichen von Erschöpfung, über verstärkte Konflikte zwischen Arbeits- und Privatleben bis zu körperlichen Beschwerden. Verschärft wird die Situation durch die latente Angst, der eigene Arbeitsplatz könnte wegrationalisiert werden. Dass in solchen Belastungssituationen vermehrt zu psychoaktiven Substanzen gegriffen wird, gilt als gesichert.
Auf der anderen Seite bietet Digitalisierung die Chance von mehr Autonomie und Verantwortlichkeit für Beschäftigte, verschafft einfachen, schnellen Zugang zu Wissen und Unterstützung und ermöglicht flachere Organisationsstrukturen und eine neue Kultur des Arbeitens. Vorausgesetzt „schlechte Prozesse“ werden nicht einfach in „schlechte digitalisierte Prozesse“ transformiert. Im Bereich der technologischen Unterstützung von Beschäftigten mit Sinnesbeeinträchtigungen oder beispielsweise dann, wenn Virtual Reality(VR)-Brillen zu Trainingszwecken für komplexe Abläufe und Notfallsituationen genützt werden, liegen die Vorteile von Digitalisierung wohl auf der Hand.
Eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob „Digitalization“, also die digitale Transformation von Unternehmen und Organisationen überwiegend eine Chance darstellt oder eher zur Belastung wird, spielen einmal mehr Führungskräfte und Unternehmensleitung. Sie prägen die Arbeitsorganisation und Unternehmenskultur– z.B. durch maßvollen, individuell optimierten Einsatz digitaler Technologien, die Bereitstellung von Unterstützung im Umgang damit und nicht zuletzt durch ihr persönliches Beispiel eines gesunden Umgangs mit digitalen Technologien. Aber auch Arbeitnehmervertreter/innen und Akteur/innen der betrieblichen Gesundheitsförderung können und müssen die aktuellen Umbrüche mitgestalten. Dabei sind verhaltens- und verhältnisorientierte Maßnahmen zu setzen. Arbeitnehmer/innen wiederum sind gefordert, noch mehr als früher offen für Neues zu sein, neue Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien zu erwerben und Bewältigungsstrategien für digitalen Stress zu entwickeln.
Digital Transformation – nichts bleibt mehr unberührt
Im Sinne der Verhältnisprävention gilt es auch jene durch die digitale Transformation angestoßenen gesellschaftlichen Veränderungen in den Fokus zu nehmen, die vielleicht nur mittelbar und mit einem Blick auf längere Zeiträume eine Rolle für Gesundheit oder Suchtvorbeugung spielen.
Von der digitalen Transformation werden nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik, die Gesetzgebung und das Bildungssystem betroffen sein und es gibt einen starken Konnex zu den so drängenden ökologischen Fragen. Digitale Transformation wird das Konzept der Erwerbsarbeit zunehmend in Frage stellen. In Zeiten, in denen immer weniger (bzw. nur mehr hochqualifizierte IT-) Menschen für Arbeitsleistungen gebraucht werden, erfährt die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens eine neue Renaissance. Bemerkenswert ist hierbei, dass auch Silicon-Valley-Unternehmer diesen Ansatz, der traditionell von Linken und christlichen Kirchen forciert wird, aufgreifen und neu interpretieren.
Spätestens jetzt ist klar, dass es einen breiten gesellschaftlichen Diskurs dazu braucht, wie Digitalisierung dem Menschen mit seinem Bedürfnis nach Tätig-Sein, in seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit dienen kann.
Quellen und weiterführende Informationen:
- Gimpel et. al (2018): Digitaler Stress in Deutschland. Eine Befragung von Erwerbstätigen zu Belastung und Beanspruchung durch Arbeit mit digitalen Technologien
- Dokumentation der Tagung „Brennpunkt Suchtprävention in Zeiten von 4.0“
- Dokumentation des WAGE-Unternehmensforums 2019 „Ältere als Fachkräftepotential in einer sich wandelnden Arbeitswelt – Aufgaben und Werkzeuge für Führungskräfte“
Text: Mag. Rosmarie Kranewitter-Wagner, Institut Suchtprävention Linz
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